20.03.2010

Undercover im „Bolschoj“


Drei Tage Probekellnern in Moskaus neuestem Luxusrestaurant

Im April wurde hinter dem Bolschoj-Theater das „Bolschoj Restaurant“ eröffnet — das neue Projekt von Arkadij Novikov, Moskaus bekanntestem Gastronomen. Mit dem erfahrenen französischen Chefkoch Kamel Benamar und einer Sammlung moderner Kunst in den Sälen will er die europäischen Pendants übertreffen und das Restaurant nachhaltig zum kulinarischen Klassiker der Hauptstadt machen. MDZ-Autorin Valentina Nikiforova versuchte, dem Geheimnis des „Bolschoj“ auf die Spuren zu kommen, und kellnerte dort extra für Zeitung drei Tage lang.

Was macht ein Neuling am ersten Tag im „Bolschoj“? Er, in diesem Fall sie, poliert Gläser, Besteck und Geschirr, zehn Stunden am Stück. Am zweiten Tag fängt das Polieren von vorne an. Nach zwölf Stunden tun die Füße furchtbar weh, eine Notlüge verhilft zur Flucht. Am nächsten Tag geht es wieder von vorne los. Der Aufenthalt im „Back-Office“ – dem Raum hinter der Bar, wo sich die Küche befindet – kann für Anfänger ohne Branchenerfahrung bis zu einem Monat dauern. Das Leben spielt sich aber in den Sälen ab. Während die Kellner putzen, genießen die Gäste Kunst und Speis'. Die Reihenfolge entspricht der Moskauer Lebensart: das Wichtigste ist das Interieur, das Essen kommt danach. Vielleicht gibt es in Moskau deswegen
überdurchschnittlich viele schöne, aber keine Michelin-Sterne-Restaurants? Die Besucher des „Bolschoj“ sind von Bildern und
Skulpturen bekannter Künstler aus aller Welt umgeben: George Pusenkoff, Isabel Munõz, Dietrich Klinge, Joan Hernandez Pijuan, Pierre Soulage, Antoni Tàpies.

Am Nachmittag kommen etliche Gäste und mit ihnen die Chance, dem „Back-Office“ zu entkommen. Chefkoch Kamel Benamar – kahlhäuptig, dunkeläugig, hoch konzentriert und cholerisch – ruft „Service!“ – ein Rindfleischtartar muss in den Saal getragen werden. Die Kellner sind alle beschäftigt, und außer einer Frau ohne Branchenerfahrung, die den dritten Tag im „Back-Office“ festsitzt, kann ihn niemand hören. Auf das schüchterne: „I am not going out yet“ antwortet er entschlossen: „Sixteen, dawaj, dawaj“. Der Tisch Nr. 16 erhält den Tartar. Es geht zurück und wieder raus, hin und her mit den Bestellungen: gebratene Gänseleber mit süßen Pinienzapfen (1300 Rubel), Perlgraupenrisotto mit schwarzem Trüffelöl (700 Rubel), Rote Beete-Salat
mit Hüttenkäse und süß-saurem Dressing (750 Rubel), Gänsestopfleberterinne mit Sauternes & Kamille-Gelee (1000 Rubel).

Das Menü ist sehr klassisch im Gegensatz zur kreativen Küche, die in Deutschland gepflegt wird. Das ökologische Bewusstsein der Europäer führt außerdem immer mehr Bioprodukte und immer weniger artengeschützte Tiere auf die Karte. Im „Bolschoj“ aber findet man neben dem Beluga-Kaviar mit Bliny (5000 Rubel) auch Blauflossentuna in zwei Varianten: als Bestandteil eines Meeresfrüchtecarpaccio (2200 Rubel) und als Salat mit Bohnen (1100 Rubel). Ohne sie wäre der Konsument enttäuscht –Moskauer sind eben konservativ.

Der Abend naht, das Restaurant füllt sich. Am ovalen Tisch sitzen russische, italienische und amerikanische Geschäftsleute, im Kammersaal neben der Bar junge schöne Frauen und aufgeregte Männer, in den drei anderen Sälen Paare, Familien und Freundeskreise von der Rubljowka. Live-Klaviermusik umplätschert die Gespräche. Da erscheint Arkadij Novikov persönlich. Er setzt sich zu Wladimir Spiwakow und seiner Gemahlin. Spiwakow ist berühmter Geiger, Dirigent der „Moskauer Virtuosen“ und Leiter des Hauses der Musik. Sie sprechen über die Kunst im „Bolschoj“. Der letzte Kellnertag geht zu Ende. Die an diesem Abend verdienten 500 Rubel werden aufgeteilt: Ein Teil geht in der Nacht an den Taxifahrer, den Rest erhält am Morgen eine Babuschka für ein halbes Kilo Sanddorn für den Sanddorn- Honig-Tee à la Benamar.

Es ist zu spüren, dass sich für das Restaurant intelligente, ambitionierte und passionierte Menschen einsetzen. Das Konzept ist außergewöhnlich und erfolgreich. Die kulturellen Unterschiede machen es aber den russischen Unternehmern schwer, in Moskau eine besondere europäische Gastronomie wirtschaftlich zu betreiben: Im „Bolschoj“ sind die Produkte gut, das Menü aber längst überholt. Die Kunstsammlung erinnert an Lenin im Mausoleum: imposant, aber ein bisschen tot. Nur die kosmopolitische und stolze Atmosphäre vermählt das „Bolschoj“ mit den anderen Restaurants dieser Klasse weltweit. Sollte irgendwann das Bolschoj-Theater wieder aufmachen (eine moderne russische Weisheit besagt, dass alles, was zur Renovierung geschlossen wird, als Einkaufszentrum wiederöffnet), so wird der Weg von den ästhetischen zu den kulinarischen Freuden nicht weit sein.

Bolschoj Restaurant
Ul. Petrowka 3/6, Geb. 2
M. Kusnezkij Most
www.novikovgroup.ru
Tel.: (7 495) 789 8652

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